frühmorgens am 9. November 1989

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© nicht bei mir.

In der Nacht vom achten auf den neunten November hielt ich mich in meiner Einraumwohnung im Altbaubereich von Neukölln
in Berlin(West) auf. Ich bestimmte Wanzen (Heteroptera). Nach meiner Erinnerung war es so gegen zwei Uhr früh,
am neunten November 1989, dass ich eine Pause machte und das Radio anstellte. Es kamen Nachrichten:
In Berlin sind Grenzübergänge von Ost-Berlin nach West-Berlin geöffnet. Jeder wird aus der DDR ohne vorher irgendwas beantragen zu müssen rausgelassen.
Und auch wieder zurück reingelassen!
Ich wunderte mich. Denn ich hatte geglaubt, dass es so was zu meinen Lebzeiten nicht mehr geben wird.
Ich setzte nach der Pause das Bestimmen von Insekten nicht weiter fort, sondern ging zum Hermannplatz, von wo die Nachtbusse in alle Richtungen fahren.
Mit dem N19 wollte ich zum Kurfürstendamm fahren. Denn im Radio hatten sie gesagt, dass Menschen aus Ost-Berlin zum Kurfürstendamm
strömen. Irgendwann stiegen Menschen aus der DDR in den Bus ein. Ich hörte ein Gespräch:
“Wenn ich das morgen auf Arbeit erzähle, dass ich in der Nacht in Westberlin gewesen bin, das glaubt mir keiner.”
Die Frau kam also gerade aus Ost-Berlin und hatte fest vor, noch am selben Tage pünktlich wieder in Ost-Berlin zur Arbeit zu erscheinen.
Der Bus fuhr zum Schluss nicht mehr die normale Route zum Kurfürstendamm. Vom Wittenbergplatz an war die zum Kurfürstendamm
führende Tauentzienstraße gesperrt. Zumindest die rechte Fahrbahn, auf der der Bus sonst fuhr, war gesperrt.
Ich stieg auf dem Wittenbergplatz aus. Auf der rechten Seite der Tauentzienstraße überall sehr viele Menschen,
die eine kleine Gasse freiließen. Durch diese Gasse fuhr ab und zu ein Trabant, ein Trabbi.
Die Polizei ließ nur Autos der Marke Trabant durch. Die Menschen rechts und links der Gasse tätschelten die Trabbis liebevoll.
Die Menschen in den Trabbis hupten und winkten, hielten kurz und schüttelten Hände, wie Filmstars.
In dieser Nacht waren sie und ihre Autos auch die Stars!

Auf der Kreuzung Kurfürstendamm - Joachimstaler Straße
(damals stand dort noch das “Café Kranzler”, das im Jahre 2000 von Investoren zerstört wurde)
:
Sehr viele Menschen, die meisten wohl aus der DDR.
Ein kleiner Mann fährt im Rolls-Royce mit Nummernschild aus Berlin (West) auf die Kreuzung und hält dort.
Er läßt das Seitenfenster herunter,
schaut sich alles um ihn herum an und es kommt zu einem freundlichem Gespräch zwischen ihm und einem Trabbi-Fahrer.
Ein BVG-Doppeldeckerbus fährt langsam über die Kreuzung. Beifall brandet auf:
Auf der Seite des Busses Werbung für Wodka Gorbatschow!
Auf der Kreuzung führten mehrere Reporter von Radio- und Fernsehfirmen Interviews durch. Ein Reporter interviewte
einen jungen Mann mit langen Haaren. Der junge Mann war der Ansicht, dass in der DDR die Schriften von Karl Marx falsch
ausgelegt worden waren und trat für “den wahren Sozialismus” in ganz Deutschland ein. Ein mittelalter Mann mit
kürzeren Haaren machte sich über den jungen Mann lustig.

Ich fuhr zurück nach Neukölln. In der Erlanger Straße hatte das Zeitungsgeschäft, in dem es früh morgens auch frische Brötchen
zu kaufen gibt, schon geöffnet. Wie immer. Vor dem Zeitungsgeschäft begegnete ich einer Nachbarin. Ich sagte zu ihr:
“Die Berliner Mauer ist offen”, wenn ich mich nicht irre. Die Frau glaubte mir nicht. Ich erzählte der Frau, was ich mit
meinen eigenen Augen gesehen hatte, aber sie glaubte mir nicht. Vor dem Zeitungsgeschäft waren schon die “Bild” und die “BZ”
vom 9. November ausgestellt. Sofort glaubte mir die Frau aus meiner Nachbarschaft alles und sagte ernst und erschrocken:
“Und wer soll das bezahlen?”

Etwa sechs Wochen später wollte ich ... eine Postkarte schicken. Auf dem Mehringdamm sah ich mir an einem Postkartenständer
vor einem Geschäft Postkarten an. Da sah ich auf einer Postkarte zwei Fotos. Das untere vom 9. November,
Kurfürstendamm /Ecke Joachimstaler Straße. Das war die Situation, in der ich drin gewesen war! Ich suchte und fand mich:
Meinen Kopf, damals noch mit Bart. Meinen rechten Arm in meiner braunen Lederjacke. Und mit einer Hand versuche ich,
meine Augen vor dem gleißenden Licht eines Kamerascheinwerfers zu schützen.

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